#whatsyourresearch

In unserer Serie #whatsYourResearch stellen Wissenschaftler ihre Forschungsprojekte vor. Oft ist für Außenstehende auf den ersten Blick nur schwierig zu erkennen, wofür ein Projekt überhaupt gut sein soll. Wer könnte das besser erklären, als derjenige, der es macht?

Zuerst sprechen wir mit Prof. Dr. Gary Lewin. Er arbeitet bereits seit 1996 als Gruppenleiter am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin-Buch und ist seit 2003 zudem Professor an der Charité Berlin. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit der „Molekularen Physiologie der somatosensorischen Wahrnehmung“. Was das ist und was Nacktmulle damit zu tun haben, erzählt er uns im Interview, das wir 2018 mit ihm führen durften.

 

Nacktmulle, Fruktose und Sauerstoff.

Prof. Lewin (rechts) und ein Nacktmull. Copyright Roland Gockel, Max-Delbrück Centrum

 

In welchem Forschungsfeld arbeiten Sie? Warum ist Ihr Feld wichtig?

Wir erforschen die molekularen Grundlagen des Schmerz- und Berührungsempfindens, in der Fachsprache heißt das „molekulare Physiologie der somatosensorischen Wahrnehmung“. Unsere Ergebnisse sind besonders relevant für Menschen mit Erkrankungen, bei denen der Tastsinn gestört ist (Usher-Syndrom) und bei denen chronische Schmerzen auftreten (Neuropathie). Wer die molekularen Grundlagen versteht, kann letztlich auch neue Medikamente wie Schmerzmittel entwickeln. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt ist die besondere Physiologie der Nacktmulle, die in der Natur unter extremen Umweltbedingungen leben und trotzdem erstaunlich gesund sind.

 

Was ist Ihre konkrete Forschungsfrage und wieso ist diese wichtig für Ihr Feld?

Nacktmulle finden in ihrem natürlichen Lebensraum in afrikanischen Höhlen oft nur wenig oder gar keinen Sauerstoff vor. Uns und unsere Kooperationspartner interessiert, wie sie sich an diese Umgebung anpassen konnten. Wir haben herausgefunden, dass sie ihren Stoffwechsel von Glukose auf Fruktose umstellen (Park et al., 2017). So können sie empfindliche Organe wie Herz und Gehirn zeitweise unabhängig von Sauerstoff mit Energie versorgen. Dies ist ein noch nie zuvor beschriebener Mechanismus. Wir wollen mit dieser Erkenntnis Wege finden, wie Patienten den Sauerstoffmangel nach einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall besser überstehen können. Die Nacktmulle geben uns darüber hinaus Hinweise darauf, wie man das metabolische Syndrom, eine Vorstufe des Diabetes, behandeln kann.

Bei unserem anderen Schwerpunkt fragen wir danach, wie genau Berührungsreize übertragen werden (Mechanotransduktion). Dabei haben wir wichtige Proteine entschlüsselt, die zusammen mit mechanisch gesteuerten Ionenkanälen bei der schnellen Reizübermittlung von Berührung eine Rolle spielen. Diese Versuche sind mit Untersuchungen von Patientengruppen und gesunden Vergleichspersonen gekoppelt. Darüber hinaus untersuchen wir Mechanotransduktion bei anderen physiologischen Prozessen wie der Knochen- und Gelenksregulation bei mechanischer Belastung. Diese Fragen sind außerordentlich wichtig, um die molekularen Grundlagen von Erkrankungen des Tastsinns und des Bewegungsapparates zu verstehen.

 

In Ihrer Forschung arbeiten Sie mit Tieren. Wieso kommt Ihre Forschung nicht ohne Tierversuche aus?

Prozesse wie Reizleitung am Nerven und Verhalten wie Hören und Fühlen sind sehr komplex. Daher sind Computermodelle nicht geeignet, um die vielschichtigen Vorgänge korrekt abzubilden. Wenn wir etwa die Rolle bestimmter Proteine durch das Ausschalten der dazu gehörenden Gene untersuchen (Knock-out-Modelle), müssen wir die Auswirkungen auf den gesamten Organismus berücksichtigen.
Wir verwenden dazu vorwiegend Mäuse als Modellorganismen, um die neuronale Weiterleitung von Signalen untersuchen. Um zu bestätigen, dass die so gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen übertragbar sind, untersuchen wir regelmäßig Patienten, die an bestimmten Mutationen von Genen erkrankt sind, die für am Tastsinn beteiligte Proteine kodieren.
Wir suchen darüber hinaus nach neuen Wirkstoffen zur Bekämpfung chronischer Schmerzen oder zur Linderung des metabolischen Syndroms. Die Sicherheit und Wirksamkeit der potenziellen Pharmaka kann nicht nur an Modellen und in der Zellkultur getestet werden. Bevor ein Wirkstoff bei Menschen eingesetzt werden darf, müssen wir die Vorgaben für präklinische Studien der EU und der deutschen Behörden einhalten.
Was die Nacktmulle betrifft, so geht es hier um grundlegend neue Mechanismen, die noch nie beschrieben worden sind. Diese kann man nur im Tierversuch verstehen.

 

Welche Maßnahmen ergreifen Sie, um die Belastungen der Versuchstiere zu verringern?

Wir halten uns bei der Planung von Tierversuchen an die Vorgaben des LaGeSo und setzen konsequent die drei Grundsätze „Reduce, Replace und Refine“ bei unseren Tierversuchen um. Zuerst berechnen wir, wie viele Tiere unbedingt nötig sind, um statistisch belastbare Daten zu gewinnen, und beschränken die Tierzahl so auf das absolut notwendige Maß. Das ist für uns auch aus wirtschaftlichen Gründen geboten. Wo immer es möglich ist, ersetzen wir in vivo Versuche durch in vitro Experimente. Wir verwenden also in den meisten Fällen lediglich Gewebe, zum Beispiel isolierte Nervenzellen, Hautpräparate oder Hirnschnitte. Darüber hinaus achten wir streng darauf, dass alle Tiere, an denen Versuche durchgeführt werden, von geschultem Personal professionell betreut werden und unter den bestmöglichen Bedingungen leben. Dass die Tiere ausreichend Futter und Wasser sowie eine artgerechte Umgebung, z.B. Nistmaterial, Versteckmöglichkeiten etc. erhalten, ist für uns selbstverständlich. Bei der Beantragung der Versuche loten wir mit unseren Tierschutzbeauftragten und den Tierärzten am LaGeSo aus, welche Versuche für die Tiere tragbar sind und wie die Belastung für die Tiere möglichst gering gehalten werden kann.

 

Wissenschaftler werden oft für Tierforschung kritisiert. Wie sollte die wissenschaftliche Community Ihrer Ansicht nach mit dieser Kritik umgehen?

Ich versuche, Angriffe nicht persönlich zu nehmen. Sofern Kritik sachlich und fachlich vorgebracht wird, sollten wir sie jedoch ernst nehmen und einen Dialog anbieten. Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf Information und wir bemühen uns, Fragen zu beantworten. Die deutschen Tierschutzgesetze sind aber bereits sehr gut und wir müssen erhebliche Hürden überwinden und sehr hohe Standards einhalten, um eine Genehmigung unserer geplanten Versuche zu erreichen.

Prof. Lewin in seinem Institut. Copyright Anyess von Bock, Max-Delbrück-Centrum

 

Anmerkung

Wir fingen diese Serie mit Prof. Gary Lewin an, weil in 2018 eine PR-Kampagne gegen ihn lief. Aus der wissenschaftlichen Community und vor allem auch durch das Max-Delbrück-Centrum gab es viel Unterstützung. Dennoch finden wir es immer noch wichtig, die Ziele und Hintergründe aktueller Forschung zu erklären und danken Prof. Lewin für seine Zeit und Offenheit.