Die Vorzugsbehandlung der Angewandten Forschung

Auszug aus dem Buch Reglas y Consejos sobre Investigación Cientifica: Los tónicos de la voluntad von Santiago Ramón y Cajal, 1897. Übersetzung aus dem Spanischen Original.

Ein weiterer Trugschluss, der unbedingt mit allen Kräften bekämpft werden muss, ist die falsche Unterscheidung zwischen theoretischer und angewandter Forschung, wobei letztere gepriesen und erstere verdammt wird. Diese fehlerhafte Einschätzung breitet sich unbewusst unter jungen Leuten aus und lenkt sie davon ab, ihrer Forschung unvoreingenommen nachzugehen.

Es sind sicherlich nicht nur die Normalbürger, die einer derartigen mangelnden Wertschätzung verfallen, sondern auch Anwälte, Schriftsteller, Industrielle, und unglücklicherweise sogar namhafte Staatsmänner, deren Initiativen ernsthafte Konsequenzen für die kulturelle Entwicklung eines Landes haben können.

Diese sollten vermeiden, sich zu solchen Statements hinreißen zu lassen: „Weniger Akademiker, stattdessen mehr Industrielle. Die Stärke eines Landes wird nicht daran gemessen, was es weiß, sondern an den wissenschaftlichen Errungenschaften, die sich für den Handel, die Industrie, die Landwirtschaft, die Medizin oder das Militär nutzen lassen. Wir sollten es den phlegmatischen und faulen Deutschen überlassen, ihren spitzfindigen Untersuchungen reiner Wissenschaft nachzugehen und mit irrwitziger Begierde in den entferntesten Ecken des Lebens herumzuschnüffeln. Lasst uns für unseren Teil darauf konzentrieren, praktischen Nutzen aus den wissenschaftlichen Prinzipien zu ziehen, indem wir sie für Verbesserungen der menschlichen Existenz nutzen. Spanien benötigt Maschinen für seine Züge und Schiffe, praktische Weiterentwicklung der Landwirtschaft und Industrie, ein vernünftiges Gesundheitssystem, kurz gesagt, alles, was dazu beiträgt, die Bevölkerung, Reichtum und Wohlstand der Heimat zu fördern. Möge uns Gott von diesen nutzlosen Gelehrten befreien, die sich mit haarspalterischen Spekulationen abgeben oder sich der Bezwingung des Infinitesimalen stellen, was als frivoler, wenn nicht gar als lächerlicher Zeitvertreib angesehen werden könnte, wenn er nicht so teuer wäre.“
Albernheiten wie diese werden allenthalben von denjenigen ausgesprochen, die auf ihren Reisen im Ausland den Forschritt wegen eines seltsamen Trugbildes in den Wirkungen und nicht in den Ursachen sehen und von denjenigen, die wegen ihres geringen Verständnisses die mysteriösen Fäden nicht bemerken, die die Fabrik mit dem Labor verbinden, so wie ein Fluss mit seiner Quelle verbunden ist. Sie glauben in ihrer Gutgläubigkeit, dass sowohl die Gelehrten als auch die Normalbevölkerung zwei Gruppen bilden: diejenigen, die ihre Zeit mit Spekulationen über reine und unfruchtbare Wissenschaft verschwenden und diejenigen, die es verstehen, Tatsachen zu finden, die unmittelbar für den Forschritt und die Lebensqualität benutzt werden können.

Ist es wirklich notwendig, auf diese absurde Sichtweise einzugehen? Gibt es jemanden, dem es so an Vernunft fehlt, dass er nicht versteht, dass auch Anwendungen dort, wo Prinzipien oder Tatsachen entdeckt werden, unmittelbar aufblühen? In Deutschland, Frankreich und England sind Fabrik und Labor eng miteinander verzahnt und normalerweise steuert der Wissenschaftler selbst (entweder persönlich oder mittels Betreibergesellschaften) die industrielle Anwendung. Solche Allianzen sind in diesen großartigen Anilinfarbstofffabriken offensichtlich, eine der florierendsten Adern der deutschen, schweizerischen und französischen Industrie. Diese Tatsache ist so gut bekannt, dass Beispiele überflüssig sind. Trotzdem möchte ich zwei jüngste Entwicklungen anführen, die sehr bedeutsam sind: Die eine ist die großartige Industrie, die sich mit der Herstellung von Präzisionslinsen beschäftigt (für Mikrographie, Photographie und Astronomie), die in Deutschland von Professor Abbé in Jena durch seine tief greifende Arbeit zu mathematischer Optik ins Leben gerufen wurde. Sie sichert Preußen ein enorm wertvolles Monopol, das von der ganzen Welt unterstützt wird. Das andere Beispiel ist die Herstellung von therapeutischem Serum, das in Berlin entstanden und in Paris perfektioniert wurde. Es ist natürlich und legitim, dass Behring und Roux, die die wissenschaftlichen Prinzipien, auf denen das therapeutisch anwendbare Serum beruht, erschaffen haben, die Kontrolle darüber ausüben.

Lasst uns die Wissenschaft um ihrer selbst willen kultivieren, ohne ihre Anwendungen zunächst zu erwägen. Diese kommen immer, manchmal brauchen sie Jahre manchmal Jahrhunderte. Es spielt fast keine Rolle, ob eine wissenschaftliche Erkenntnis unseren Kindern oder Enkelkindern von Nutzen ist. Der Forschritt hätte offensichtlich gelitten, wenn Galvani, Volta, Faraday oder Hertz, die die fundamentalen Prinzipien der Elektrizität entdeckt haben, ihre Entdeckungen unterschätzt hätten, weil es keine industrielle Anwendung zu ihrer Zeit gegeben hatte.

Lasst uns festhalten, dass das Nutzlose, selbst wenn wir den menschlichen Blickwinkel (mit den notwendigen Einschränkungen von Raum und Zeit) akzeptieren, in der Natur nicht existiert. Und äußerstenfalls, selbst wenn es nicht möglich wäre, gewisse wissenschaftliche Errungenschaften für unsere Lebensqualität oder unseren Vorteil zu nutzen, bliebe immer ein positiver Nutzen: die noble Befriedigung unserer Neugier und der unvergleichbare Genuss, der in unserem Gemüt durch das Gefühl unserer Stärke entsteht, die mit der Lösung eines schwierigen Problems einhergeht

Kurz gesagt: Lasst uns ein Problem, wenn wir es in Angriff nehmen, um seiner selbst willen betrachten, ohne dass wir uns von sekundären Motiven abbringen lassen, deren Verfolgung unsere analytische Stärke verringern würde, indem die Aufmerksamkeit zerstreut wird. Im Ringen mit der Natur muss der Biologe, so wie der Astronom, hinter die Erde, auf der er lebt, schauen und seinen Blick auf das klare Universum der Vorstellungen richten, wo das Licht der Wahrheit, früher oder später, erleuchten wird. Beim Einführen einer neuen Tatsache, werden die Anwendungen zu gegebener Zeit kommen, das heißt, wenn eine andere Tatsache auftaucht, die fähig ist, sie zu befruchten. Wie man weiß, ist eine Erfindung nichts anderes als die Verbindung von zwei oder mehreren Wahrheiten zu einem nützlichen Ganzen.  Die Wissenschaft verzeichnet viele Tatsachen, deren gegenwärtiger Nutzen unbekannt ist, aber nach ein paar Dekaden oder vielleicht nach Jahrhunderten, erblickt eine neue Wahrheit das Tageslicht, die Ähnlichkeiten mit jenen rätselhaften [Tatsachen] hat und die daraus resultierende industrielle Anwendung heißt Photographie, Phonographie, Spektralanalyse, drahtlose Telegraphie, mechanische Flüge usw.. Verknüpfungen, die sich über unterschiedliche Zeiträume erstrecken, gibt es dabei immer. Porta entdeckte das Prinzip der Camera obscura, ein isoliertes Ereignis, das kaum Verwendung in der Zeichenkunst fand. Wedgwood und Davy zeigten im Jahr 1802 die Möglichkeit photographische Bilder auf einem Papier, das in Silbernitratlösung eingelegt ist, festzuhalten. Diese Entdeckung hatte jedoch keine Auswirkung, weil die Kopie nicht fixiert werden konnte. Dann kam John Herschel, dem es gelang, das Silbersalz, das nicht belichtet war, aufzulösen, wodurch es möglich wurde, das flüchtige, leuchtende Schattenbild zu fixieren. Dennoch war es fast nicht möglich, Portas Apparat zu benutzen, da die damals verfügbaren Silbersalze zu schwach waren. Dann tauchte schließlich Daguerre auf, der das latente Bild im Jahr 1839 entdeckte, indem er das wesentlich sensitivere Silberjodid benutzte. Auf bewundernswerte Weise verknüpfte Daguerre die Entdeckungen seiner Vorgänger und erschuf mit ihren Grundlagen die gegnwärtige Fotografie.

Alle Neuerungen entstehen auf diese Art und Weise: Ergebnisse werden über die Zeit durch scharfsichtige, allerdings unglückliche Beobachter weitergegeben, die es nicht schafften, die Früchte für eine ihrer Entdeckungen zu ernten, da sie noch auf ihre Befruchtung warten. Sobald allerdings alle Daten gesammelt sind, kommt ein Wissenschaftler des Weges, der Glück hat, weniger wegen seiner Originalität, eher weil er zum richtigen Zeitpunkt geboren wurde. Er betrachtet die Fakten aus dem menschlichen Blickwinkel, verknüpft sie und eine Erfindung entsteht.