Kurz-Schlüsse – Das MPI und die Ratten

“The amount of energy needed to refute bullshit is an order of magnitude bigger than to produce it.”

Zu Deutsch etwa: “Die Energie, die man zur Widerlegung von Unsinn braucht, ist um eine Größenordnung größer als die Energie, die man braucht um ihn zu produzieren.“

Dieses Zitat ist bekannt als die “Bullshit-Asymmetrie“, stammt von Alberto Brandolini, einem italienischen Programmierer, und es scheint in einer Zeit, die geprägt ist von Schlagworten wie „postfaktisch“ oder “alternative Fakten” passender als je zuvor. Doch nicht nur auf Regierungsebene findet man Behauptungen und Schlussfolgerungen, die jeglicher Grundlage entbehren, denn auch in der Wissenschaft muss man sich inzwischen immer stärker damit auseinandersetzen.

Abb. 1: Wie man Bullshit loswird.

Ein Beispiel: Letzte Woche Montag hat eine bekannte radikale Tierrechtsorganisation im Netz ein Video über Missstände am Max Planck Institut Tübingen (MPI) veröffentlicht. In diesem Video berichtet eine anonyme Frau über ihre Erlebnisse als Praktikantin am MPI. Dort sei sie gezwungen worden, ohne qualifizierte Einweisung schwierige, nicht notwendige Experimente an Ratten durchzuführen, die womöglich nicht sachgemäß betäubt wurden.

So weit, so schlecht. Bisher gibt es keine handfesten Beweise, sondern eine Behauptung von einer anonymen Quelle, die von einer nicht-neutralen Organisation veröffentlicht worden ist. Eine Strafanzeige wurde gestellt, also muss der Fall untersucht werden. Das ist selbstverständlich richtig so, denn auch dem kleinsten Verdacht von Tiermisshandlung muss nachgegangen werden. Auch das MPI nimmt die Vorwürfe ernst und behält sich rechtliche Schritte gegen den Versuchsleiter vor.

Da die Berichterstattung in dieser Richtung in der Vergangenheit oft genug emotionalisierend und alles andere als objektiv gewesen ist, darf man dem Bericht auch zunächst einmal mit einer gesunden Portion Misstrauen gegenüberstehen. (Irreführende oder falsche Aussagen bzw. Manipulationsverdacht hat es z.B. im Fall der Rhesusaffen-Versuche am MPI Tübingen gegeben)

Wie auch immer, die Untersuchungen müssen abgewartet werden. Bis die Sache klar ist, kann jeder von uns nur mutmaßen. Darum geht es mir aber auch gar nicht. Denn besonders irritiert hat mich folgender Satz, der ganz am Schluss des Videos fällt:

Die nun bekannt gewordene Fahrlässigkeit und Skrupellosigkeit im Umgang mit diesen sensiblen Tieren zeigt, dass nur ein echtes Ende aller Tierversuche die einzige Lösung gegen Tierleid und für echte Forschung ist.

An dieser Aussage stören mich einige Dinge, die ich in zwei Punkten zusammenfassen kann:

Tierversuche? Da könnte ja jeder kommen!

Punkt 1: Tierversuche sind echte Forschung. Kein Tierversuchsantrag wird von der zuständigen Kommission akzeptiert, wenn das geplante Projekt und die Notwendigkeit des Tierversuchs nicht detailliert ausgeführt sind. Dabei müssen auch A) die aktuelle wissenschaftliche Basis, B) der zu erwartende Erkenntnisgewinn und C) der geplante Weg von A nach B präsentiert werden.

Darüber hinaus impliziert diese Aussage, dass Tierversuche in allen Laboren grundsätzlich so ablaufen. Das ist allerdings falsch! In Deutschland dürfen laut Tierschutzgesetz und Tierschutz-Versuchstierverordnung nur jene Personen Tierversuche durchführen, die die dafür erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten nachweisen können. Für diesen Nachweis nimmt man an einem mehrwöchigen, zertifizierten Kurs mit Abschlussprüfung teil (z.B. FELASA-akkreditierte Kurse). Dort lernt man auch, wie ein Tier möglichst ohne Leid betäubt und getötet wird, was ebenfalls gesetzlich verlangt wird.

Aber selbst dann wird man als unerfahrener Forscher nicht einfach auf Tiere losgelassen. In einem seriösen Labor wird einem Neuling ein erfahrener Betreuer zugewiesen, der in die Praxis einführt und die Durchführung zunächst beaufsichtigt. Das ist Standard in jedem Tierversuchslabor und jede andere Handlungsweise kann als fahrlässig bezeichnet werden.

Falls die Anschuldigungen stimmen, dann hat der Laborleiter oder der verantwortliche Betreuer also hochgradig fahrlässig, oder sogar beabsichtigt gesetzeswidrig gehandelt. So eine Vorgehensweise ist alles andere als Standard – was mich zum zweiten Punkt bringt.

Zu kurz geschlossen

Punkt 2: Die zitierte Aussage lässt sich folgendermaßen umformulieren: „Weil einer Mist gebaut hat, müssen alle dafür den Kopf hinhalten.“

Nur mal angenommen, am Max Planck gab es tatsächlich diese Arbeitsgruppe, in der Tierschutz mit Füßen getreten wird – ich wiederhole: das ist nicht bewiesen – warum sollten dann alle anderen Arbeitsgruppen, die nach den Regeln spielen, und denen das Tierwohl am Herzen liegt, dafür den Kopf hinhalten? Warum sollte jemand, der an der Uni Kiel mit Zebrafischen arbeitet, seine Arbeit einstellen wegen Experimenten, die am MPI Tübingen an Ratten durchgeführt wurden? Warum sollte auch nur ein MPI-Kollege, der auch mit Ratten arbeitet und ganz ähnliche Experimente durchführt, einer Schlamperei im Nachbarlabor zum Opfer fallen? Ist ein bisschen Differenzierung zu viel verlangt?

Kein seriöser Wissenschaftler würde irgendeine Form von Misshandlung eines Tieres gutheißen oder sogar verteidigen. Falls diese Missstände am MPI existieren, müssen die Verantwortlichen selbstverständlich zur Rechenschaft gezogen werden. Das würde niemand bestreiten. Aber pauschal allen Wissenschaftlern in Tierversuchen moralisches Handeln oder gesetzeskonforme Laborpraxis abzusprechen ist unfair.

Ähnlich unlogisch wie die Aussage oben sind auch Aussagen wie:

  • „Alice schlägt ihren Hund. Das zeigt, dass nur ein Verbot von Hundehaltung die einzige Lösung gegen Tierleid und für echte Haustierhaltung ist.“

oder vielleicht auch

  • „Bob fährt betrunken Auto und verursacht einen Unfall. Das zeigt, dass nur ein Verbot von Autofahren die einzige Lösung gegen Menschenleid und für echte Fortbewegung ist.“

Es ist einfach eine Tatsache: Es wird immer Menschen geben, die sich (bewusst oder unbewusst) nicht an die Regeln halten, selbst wenn diese Gesetzeskraft haben. Vielleicht sollte man also eher Menschen verbieten?

Alice und Bob haben beide etwas grundlegend falsch gemacht, das sowieso schon gesetzlich verboten ist. Ähnlich liegt der Fall am MPI: Tiere ohne Betäubung zu operieren oder zu töten, ist gesetzlich verboten. Es müssen also keine neuen Gesetze her, schon gar nicht muss das System insgesamt auf den Prüfstand, sondern der Fall muss untersucht werden und die existierenden Gesetze werden dann je nach Ergebnis auf den Fall angewandt. Das ist ja eben auch die Grundlage für die Strafanzeige. Sollte es zur Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens kommen, sollten Verantwortliche belangt und rechtskräftig verurteilt werden: Auch das wäre lediglich ein Hinweis darauf, dass das existierende System funktioniert, dass die Spreu vom Weizen getrennt und ungesetzliche Praxis aufgedeckt und geahndet wird.
Eine solche Forderung nach generellen Verboten aber ist mal wieder plakativ, populistisch und unangemessen.

Rückblickend sehe ich, dass dieser Text deutlich länger geworden ist als die ursprünglich zu widerlegende Aussage. Um genau zu sein hat er 1.011 Wörter, die ursprüngliche Aussage nur 31. Bardolinis Schätzung scheint also falsch zu sein. Es sind eher zwei Größenordnungen.