Im letzten Dezember war ich in Göttingen bei einem Vortrag von Ärzte gegen Tierversuche: „Sackgasse Tierversuch“, gehalten von Dr. med. Eva Katharina Kühner. Der Vortrag ist auch auf dem offiziellen Youtube-Kanal der Organisation zu finden (link) und wurde in Göttingen nur sehr leicht verändert vorgetragen.
Im Großen und Ganzen fokussierte sich der Vortrag auf die Behauptungen: 1) Wissenschaftler in der biomedizinischen Forschung würden fast ausschließlich Tierversuche machen. 2) Tierversuche hätten so gut wie nichts zum medizinischen Fortschritt beigetragen, ja sie seien sogar hinderlich. 3) Es gebe gleichwertige Alternativen zu Tierversuche, wie z.B. In-Vitro-Methoden, Organ-on-a-chip oder Computersimulationen. Es sind dieselben Behauptungen, die auch an anderen Stellen im Internet von tierversuchskritischen Organisationen zu finden sind. Leider war der Vortrag auch hier oberflächlich und ging nicht auf die Hintergründe ein, um diese Behauptungen näher zu diskutieren oder zu validieren. Die Ethik zu Tierversuchen wurde fast gar nicht besprochen. Frau Dr. Kühner nannte diese zentrale Frage „bereits ausreichend diskutiert“. Die Behauptungen gegenüber der biomedizinischen Forschung sind nicht neu, und wir sind bereits ausführlich darauf eingegangen (FAQ, Faktencheck, Alternativen), daher werde ich es hier nicht wieder aufgreifen, sondern möchte von der Frage-Antwort-Runde nach dem Vortrag berichten.
Ein Vortrag für Leute, die kein Wissen über Tierversuche haben
Zunächst aber ein paar Worte zu Göttingen, denn der Ort, an dem dieser Vortrag gehalten wurde, hatte doch ziemlich großen Einfluss auf seine Rezeption: Göttingen ist mit ca 120.000 Einwohnern eine kleine Großstadt, die stark durch Wissenschaft dominiert ist. Ca. 20 % der Einwohner sind Studenten, eine große Universität, zwei Fachhochschulen, fünf Max-Planck-Institute, das Deutsche Primatenzentrum, sowie etliche weitere Forschungsinstitute sind hier ansässig. Nicht ohne Grund ist Göttingens Motto: „Die Stadt, die Wissen schafft“. Hält man also einen Vortrag zu Tierversuchen im Göttinger Universitätsklinikum, der zudem auf dem naturwissenschaftlichen Campus beworben wurde, dann kann man damit rechnen, dass etliche Wissenschaftler anwesend sein werden. Frau Dr. Kühner hatte damit offensichtlich nicht gerechnet. Erst in der Frage-Antwort-Runde wurde ihr klar, dass das Publikum hauptsächlich aus Wissenschaftlern bestand. Sie meinte daraufhin, sie sei gewohnt, vor Studenten zu reden, die kein Wissen über die Materie haben.
Deutliche Kritik aus dem Publikum
Nachdem der Vortrag also beendet war, gab es ein großes Interesse an der anschließenden Fragerunde. Im Publikum saßen Wissenschaftler mit jahrelanger Erfahrung in tierversuchsfreien Methoden, die Frau Dr. Kühner als vollständigen Ersatz zu Tierversuchen anpries. Sie wollten Details wissen, wie diese Methoden denn Tierversuche ersetzen könnten. Leider hatte Frau Dr. Kühner darauf keine Antworten. Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass Wissenschaftler nicht nur mit einer einzigen Methode arbeiten, sondern in der Regel eine Vielzahl an Methoden verwenden, um eine bestimmte Thematik zu bearbeiten. Jede wissenschaftliche Methode hat Vor- und Nachteile, kann aber nur ganz bestimmte Fragen beantworten. Diese von ihr und in einigen Medien angepriesenen „Ersatzmethoden“ sind häufig gar kein Ersatz für Tierversuche, sondern komplementär. Deshalb werden diese Methoden auch bereits verwendet, häufig sogar von denselben Wissenschaftlern, die auch Tierversuche machen. Frau Dr. Kühner schien das aber gar nicht zu wissen, ja sie wirkte sogar ein wenig überrascht, als ihr das jemand erklärte.
Neben den aufklärenden Fragen zu den Ersatzmethoden gab es viel Kritik am restlichen Inhalt des Vortrags. Zum Beispiel waren die Anwesenden ethisch nicht damit einverstanden, die Giftigkeit von Medikamenten an Menschen zu testen (Phase-1-Medikamentenstudie), ohne vorher so gut wie möglich die Giftigkeit bereits auszuschließen, d. h. im Tierversuch (wenn keine Alternativen mit gleicher Aussagekraft vorhanden sind).
Außerdem wurden etliche Sachlagen falsch dargestellt. Zum Beispiel behauptete Frau Dr. Kühner, dass nur 4 Millionen Euro in „tierversuchsfreie“ Forschung gelangten, gegenüber Milliarden in der biomedizinischen Forschung insgesamt. Ich bin mir nicht sicher woher die Zahl “4 Millionen” kommt, aber ich vermute, sie meinte damit den Etat des BMBF für die Erforschung weiterer Alternativmethoden. Sie vergisst dabei aber, a) dass auch Pharmaunternehmen eigene Gelder für Forschung an Alternativen aufbringen, b) dass ein Großteil der staatlichen Mittel für die biomedizinische Forschung nicht in Tierversuche investiert wird, c) dass noch weitere Fördermittel speziell für Alternativmethoden existieren, z.B. von den Ländern, der EU, oder Stiftungen, und d) dass es auch noch nicht-spezifische Fördermittel gibt, auf die sich jeder Wissenschaftler bewerben kann, auch für Alternativmethoden.
Enttäuschung bei den anwesenden Wissenschaftlern
Die Oberflächlichkeit und eher frei interpretierte Faktenlage ließ für die anwesenden Wissenschaftler nicht erkennen, dass hier eine objektive Debatte gewünscht ist. Mehr noch, da dieser Vortrag ja “den Wissenschaftlern” pauschal die Schuld an den angeblichen Missständen zuwies, war er nicht weniger als ein verbaler Schlag ins Gesicht. Man erkannte die Enttäuschung der Anwesenden. Mehrere betonten, dass sie sich auf diesen Vortrag gefreut hätten, um eine konstruktive Debatte zu führen. Einige hatten sicherlich gehofft, sogar ein paar Hilfestellungen für die eigene Arbeit mitzunehmen.
Wissenschaftler möchten genauso wenig Tierversuche machen wie jeder andere, aber sie möchten die daraus resultierenden Errungenschaften nicht dafür opfern. Dieses ethische Dilemma ist ein großes Problem und geht vielen Wissenschaftlern nahe. Etliche von ihnen, und dazu gehöre auch ich, verwenden daher einen Teil ihrer Zeit, um Methoden zu entwickeln, die Tierversuche teilweise ersetzen oder reduzieren oder das Leben der Tiere den Umständen entsprechend angenehmer macht. Wird man dann mit so einem Vortrag konfrontiert, dann ist das sehr traurig. Vermutlich kam deshalb auch der eindrücklichste Kommentar von dem Tierversuchsbeauftragten des Universitätsklinikums. Er erklärte, dass die Klinik ein eigenes Ethikkomitee habe, welches die Tierversuchsanträge prüfe, bevor sie überhaupt an die Behörden geschickt würden. Er hätte sich viel von diesem Abend erhofft und sei umso mehr enttäuscht, dass der Vortrag ein so unglaublich anderes Bild beschreibe, als die Realität, mit der er sich täglich konfrontiert sehe.
Wir benötigen eine sachliche Debatte
Frau Dr. Kühner sagte zum Abschluss, dass sie lediglich eine Außenstehende sei, die einen anderen Blickwinkel aufzeigen möchte. Sie gab also zu, keine Expertin in der Thematik zu sein. Das Gefährliche an dem Vortrag war allerdings, dass sie mit ganz anderen Worten gestartet war. Anfangs erklärte sie, dass sie sowohl Ärztin sei, als auch wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Ärzte gegen Tierversuche. So suggeriert sie einen Expertenstatus und stellt ihre Glaubwürdigkeit sicher, zumindest gegenüber einem unbedarften Publikum. Daher ist es umso wichtiger, als Wissenschaftler so einer Veranstaltung beizuwohnen und eine sachliche Diskussion zu starten. Nur so kann man den anderen Zuhörern verdeutlichen, wie weit so ein Vortrag von der Realität entfernt ist.
Die positive Seite: Es war schön zu sehen, wie viele Wissenschaftler in Göttingen zu der Veranstaltung gekommen sind, um eine offene Debatte zu führen und um die Diskussion über Tierversuche sachlich zu gestalten.