Mr. Spock und ein Flugzeug voller Mäuse

Ein entführtes Flugzeug rast auf ein vollbesetztes Fußballstadion zu. Um zehntausende Leben zu retten, schießt ein Kampfpilot das Flugzeug ab. Der Haken: An Bord waren 164 Passagiere. Genauso unschuldig, wie die Personen im Fußballstadion.

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Ein entführtes Flugzeug abschießen, bevor es auf ein Fußballstadion rast? Klare Sache für Mr. Spock (Bilder aus der public domain)

Das ist zum Glück nicht in echt passiert, sondern nur im Fernsehen. Das Erste stellte diese Woche im Film „Terror – Ihr Urteil“ den fiktiven Kampfpiloten vor Gericht. Wäre er zu verurteilen oder nicht? Schwierige Frage. Der Sender forderte die Zuschauer auf, das zu entscheiden. Die über 600.000 Anrufer kamen mit 86,9% zu einem eindeutigen Ergebnis: Unschuldig.

Ich frage mich gerade, wie die Abstimmung wohl ausgegangen wäre, wenn an Bord des entführten Flugzeuges statt der Menschen 164 Mäuse gewesen wären. Hätte irgendwer noch ethische Einwände, das Flugzeug abzuschießen? 164 Mäuse töten, um 70.000 Menschen zu retten? Die Sache dürfte so unstrittig sein, dass wahrscheinlich niemand überhaupt nur den Film ansehen würde. Zugegeben, das Szenario ist an den Haaren herbeigezogen. Nehmen wir ein anderes. 70.000 Menschen sind von einer tödlichen Krankheit bedroht. Ein Wissenschaftler hat eine vielversprechende Forschungsidee, die zu einer Heilung führen könnte. Er beantragt daher bei der zuständigen Landesbehörde, eine Reihe von Tierversuchen mit insgesamt 164 Mäusen durchführen zu dürfen. Zustimmen oder ablehnen? Quarks & Co haben eine ähnliche Frage vor einiger Zeit ihren Facebook-Usern gestellt. Es wurde vorausgesetzt, dass es um ein lebensrettendes Medikament ginge, dessen Entwicklung von diesem Tierversuch abhinge. Gerade mal 34% der Teilnehmer fanden es ethisch gerechtfertigt, für ein solches fiktives Medikament Mäuse zu töten. Als die EU-Komission in einer Online-Befragung wissen wollte, ob Tierversuche akzeptabel seien, solange mit ihrer Hilfe medizinische Behandlungen und Medikamente entwickelt würden, bejahten dies nur 40%. Hätten wirklich doppelt so viele Fernsehzuschauer den Kampfpiloten schuldig gesprochen, wenn er Mäuse statt Menschen abgeschossen hätte?

Weichenstellerproblem, illustriert von John Danaher (creative commons)

Bei dem Flugzeug-Fall handelt es sich um eine Abwandlung des klassischen Weichensteller-Problems. Darin rast ein Zug auf ein Gleis mit fünf Personen zu. Du könntest schnell noch die Weiche umstellen, so dass er stattdessen auf einem anderen Gleis nur eine einzige Person erwischt. Umstellen oder nicht? Ganz klar ist die Sache aus Sicht des Utilitarismus, einer Ethik, die hervorragend vom ersten Offizier des Raumschiffes Enterprise, Mr. Spock, auf den Punkt gebracht wurde: „Das Wohl von Vielen, es wiegt schwerer als das Wohl von Wenigen oder eines Einzelnen.“ Demnach wählt man ganz einfach immer das Verhalten, das mehr Menschen rettet. Es wird knallhart abgewogen. Im Gegensatz dazu sagt die Pflichten-basierte Ethik, dass es Sachen gibt, die immer falsch sind, egal was der Nutzen davon wäre. Einen Menschen darf man nach manchen Vertretern dieser Sicht niemals absichtlich töten, auch nicht um viele andere zu retten. Ebenso knallhart. Die würden nämlich tatenlos zusehen, wie fünf Menschen vom Zug überrollt würden. Oder eben 70.000 vom Flugzeug. Das ist die Natur eines ethischen Dilemmas. Es gibt keinen eleganten Ausweg.

Die Parallele zu Tierversuchen liegt auf der Hand. Auf den bildlichen Schienen liegen die Menschen, die in Zukunft von unheilbaren tödlichen Krankheiten heimgesucht werden. Auf dem Ausweichgleis liegen die Tiere, an denen wir forschen müssen, um lebensrettende Medikamente zu entwickeln. Mancher mag einwenden, dass wir auch mit Tierversuchen gegen eine bestimmte Krankheit nicht mit Sicherheit ein Mittel finden werden. Betrachtet man allerdings die Geschichte der biomedizinischen Forschung, sieht man schnell, dass in regelmäßigen Abständen lebensrettende Medikamente und Behandlungen dabei herauskommen. Wir können zwar nicht sagen, welche Krankheit die bildlichen fünf Menschen auf den Schienen haben werden. Aber wir können sehr sicher sein, dass wir sie retten, wenn wir weiter forschen.

Beim Weichensteller-Problem gibt es allerdings noch einen Unterschied zu Tierversuchen, der besonders für die Pflichten-basierte Ethik wichtig ist. Wenn ich den Zug umleite, verursache ich den Tod des einen Menschen. Aber ich habe den Menschen nicht dazu benutzt, den Zug umzuleiten. Den Menschen, der so oder so durch mein Tun zu Tode kommt, interessiert das herzlich wenig. Für manche Ethiker ist das aber entscheidend. Sie argumentieren, dass ein Mensch niemals Mittel zum Zweck sein darf. Beim sicheren Tod durch Kolateralschaden können sie dagegen noch ein Auge zudrücken. Die Tiere in Tierversuchen sind aber unzweifelhaft Mittel zum Zweck. Damit das Weichensteller-Problem auch für Vertreter dieser Sichtweise mit Tierversuchen vergleichbar ist, muss man es anpassen. Zb so: darf ich Mäuse ins Getriebe werfen und so den Zug stoppen? Oder in den Tank des (unbemannten) Flugzeugs?

Wie schwerwiegend dieser Unterschied ist, darüber lässt sich streiten. Aber ich bezweifle sehr stark, dass er für das Absinken der Zustimmung von über 80% (Flugzeugfilm) auf unter 40% (Umfragen zu Tierversuchen) verantwortlich ist. Eine wesentlich naheliegendere Erklärung ist, dass keine dieser Umfragen eine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung befragt hat. Wir vergleichen hier abendliche ARD-Schauer mit Leuten, die sich von sich aus auf eine Umfrage zum Thema Tierversuche melden. Es ist anzunehmen, dass in letzterer Gruppe der Anteil leidenschaftlicher Tierversuchsgegner deutlich höher ist, als im Bevölkerungsdurchschnitt. Und dann ist da natürlich noch dieses böse Wort: „Tierversuche“. Ich habe mehrfach erlebt, wie dieses Wort so starke Aversion auslöst, dass ein Gedankenexperiment im Stil von „wären Sie für Tierversuche, unter der Annahme, dass…“ unmöglich ist. Die jeweilige Annahme wird gar nicht mehr wahrgenommen. Jahrzehntelange Kampagnen unermüdlicher Tierversuchsgegner sind weitestgehend unwidersprochen auf die Bevölkerung eingeprasselt. Ganz im Geiste der postfaktischen Gesellschaft wurden und werden Sachverhalte so lange zurechtgebogen, bis sich das ethische Dilemma scheinbar in nichts auflöst. Tierversuche, so viele der einschlägigen Organisationen, hätten doch noch nie einem Menschen das Leben gerettet. Oder es gäbe haufenweise Alternativen, auf die man nur umsatteln brauche, um Tierversuche überflüssig zu machen. Beides ist unwahr. Ein Dilemma leugnen hilft nicht dabei, die ethisch beste Lösung zu finden.

Auf der anderen Seite dürfen wir Wissenschaftler auch nicht so tun, als wäre mit der Präsentation der Fakten die ethische Frage schon beantwortet. Zweifellos, die Fakten müssen wir liefern. Deswegen setzt sich Pro-Test Deutschland nicht nur für einen möglichst verantwortungsvollen Umgang mit Versuchstieren und eine konsequente Anwendung des 3R-Prinzips ein, sondern auch für größtmögliche Transparenz. Zuerst müssen die Fakten auf den Tisch. Aber dann muss überlegt werden, was angesichts der Gegebenheiten aus ethischer Sicht zu tun ist. Da gibt es eine Reihe unterschiedlicher Ansichten, denn Tierversuche sind in der Tat ein ethisches Dilemma. In den Worten von Blogger Servan Grüninger: Wir müssen „die Fakten akzeptieren und die Meinungsverschiedenheiten angehen“.

Dann lege ich mal vor. Fakt ist, dass wir mit Tierversuchen Leben retten können. Meine Meinung ist, dass wir es auch tun sollten. Nicht etwa, weil ich Tieren einen moralischen Wert abspräche. Sondern aus dem gleichen Grund, aus dem ich ohne zu zögern ein Flugzeug voller Mäuse abschießen würde, das auf ein Fußballstadion zurast: Das Wohl von Menschen, es wiegt schwerer als das Wohl von Tieren. Live long and prosper! ?