Wenn die Entscheidung lautet: Entweder viele, viele Ratten töten – oder tatenlos zusehen, wie sie ein ganzes Ökosystem auslöschen. Wie sieht dann ethisches Handeln aus? Umweltschutz auf Anacapa.

Freilebende Ratte. Quelle: Wikipedia
Die Insel Anacapa beherbergt ein einzigartiges Ökosystem. Sie ist Heimat verschiedener Echsen und Kleinsäuger und gleich mehrerer bedrohter Vogelarten. 145 der dort heimischen Tier- und Pflanzenarten kommen nirgendwo sonst auf der Welt vor. Doch irgendwann kamen die ersten Ratten auf die Insel, vermutlich eingeschleppt in den Frachträumen von Schiffen. Die Ratten konkurrierten nicht nur mit den Inselbewohnern um Nahrung und Nistplätze. Sie fraßen sie auch. Sie fraßen einheimische Hirschmäuse, sie fraßen Eier, und sie fraßen Küken. Inselbrütende Seevögel sind meist nicht auf Räuber vorbereitet und können sich nicht verteidigen. So fraßen die Ratten auch erwachsene Vögel. Bei lebendigem Leib. Mitte der 1990er war eine massive Bedrohung des Inselökosystems durch die Ratten offensichtlich.
Im Jahre 2002 entschloss sich die Leitung des Channel-Islands Nationalparks, die Ratten von Anacapa auszurotten. Vorherige Studien hatten gezeigt, dass Fallen wirkungslos sind. Deswegen warf man großflächig vergiftete Köder über der Insel ab. Die Ratten verschwanden von Anacapa.
Kalifornische Wissenschaftler untersuchten jetzt, welche langfristigen Auswirkungen diese Maßnahme auf die Tierwelt der Insel hatte. Sie fanden, dass sich die bedrohten Arten wie erhofft erholten, wenn auch die jahrelange Dezimierung durch die Ratten einen messbaren Verlust von genetischer Vielfalt nach sich gezogen hat. Nachteile der Ausrottungsmaßnamen für andere Arten als Ratten wurden gefunden, waren aber zum Glück sehr mild. Die Wissenschaftler kommen zum Schluss, dass die Ausrottung der Ratten ein voller Erfolg war.
Für die bedrohten Arten war sie das. Für die Ratten nicht, denn die wurden alle getötet. War die Ausrottung aus ethischer Sicht gerechtfertigt oder nicht? Die Wahl war, entweder aktiv Ratten zu töten oder inaktiv zu bleiben und der Auslöschung eines einzigartigen Ökosystems tatenlos zuzusehen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese beiden Übel gegeneinander abzuwägen. Zum Beispiel: Bei welcher Möglichkeit sterben mehr Individuen? Wäre das die alleinige Entscheidungsgrundlage gewesen, hätte man Anacapa vermutlich den Ratten überlassen. Aber man entschied, dass das Fortbestehen einer Art oder eines ganzen Ökosystems mehr wiegt, als das Leben eines einzelnen Tieres. Die Menschheit ist sich weitgehend einig, dass das eine sinnvolle Priorisierung ist. Inseln beherbergen oft seltene Arten und etwa 80% der seit dem Jahre 1500 ausgestorbenen Arten waren Arten auf Inseln. Gezielte Ausrottungen invasiver Arten zum Schutz von Insel-Ökosystemen wurden in den letzten zehn Jahren weltweit etwa 120-mal durchgeführt.
Ein ähnliches ethisches Problem wie bei der Ratteninsel stellt sich bei der Frage um Tierversuche. Wir sind der Meinung, dass die Gesundheit von Menschen und das Verbessern unseres wissenschaftlichen Verständnisses mehr wiegen als das Leben einer Ratte. Für jede(n) Deutsche sterben im Laufe ihres Lebens etwas weniger als drei Tiere (hauptsächlich Mäuse) in Tierversuchen. Wäre das Leben eines jeden individuellen Säugetieres, Menschen eingeschlossen, gleich wichtig, wäre das nicht zu verantworten. Dann müssten wir den Menschen, die heute an unheilbaren Krankheiten leiden, und denen, die morgen oder übermorgen daran erkranken, sagen, dass sie sterben müssen, damit drei Mäuse verschont werden. Wie bei der Ratteninsel Anacapa ist Nichtstun gleichzeitig auch das Verschulden von Leid. Wenn wir Tierversuche machen, verschulden wir den Tod und – in manchen Fällen – Schmerzen bei Tieren. Wenn wir keine machen, verschulden wir den Tod, Schmerzen, und Leiden bei Patienten und ihren Angehörigen. Denn mit jedem Jahr, jedem Monat, jedem Tag, den wir die Entwicklung eines lebensrettenden Medikamentes verzögern, müssen Menschen länger leiden, müssen mehr Menschen sterben. Wie im Fall von Anacapa gibt es keine leidfreie Option. Wir kommen um eine Entscheidung nicht herum.
Wir von Pro-Test Deutschland sind der Meinung, dass Tierversuche dann gerechtfertigt sind, wenn durch sie eine wissenschaftliche Frage beantwortet werden kann, für diese Frage keine tierfreie Alternativmethode zur Verfügung steht, und dafür gesorgt wird, dass der Versuch so leidfrei wie irgend möglich durchgeführt wird (siehe 3R Prinzip). Genau diese Voraussetzungen verlangt auch das deutsche Gesetz. Es ist uns aber klar, dass andere Menschen zu einer anderen Beurteilung kommen können als wir. Ob wir Tierversuche machen wollen und wie sie aussehen sollen, müssen wir gemeinsam als Gesellschaft entscheiden. Das können wir nur, wenn die notwendigen Informationen auf dem Tisch liegen. Welches Leiden verursacht ein Tierversuch und welchen Nutzen hat er? Wir setzen uns dafür ein, dass Wissenschaftler in ganz Deutschland transparent hierüber informieren, und sammeln alle relevanten Hintergründe für Euch auf unserer Seite.