Treffen sich ein Facharzt für Orthopädie, eine Medizinstudentin, ein Student in Neurowissenschaften und der Direktor eines Neurowissenschaftlichen Instituts. Zwei von ihnen sind gegen Tierversuche, zwei dafür. Wer von ihnen wird wohl über ethisch-moralische Bedenken sprechen?
Es ist ein bizarres Bild, das sich vergangenen Donnerstag bei der studentischen Vollversammlung in Tübingen während der Podiumsdiskussion zum Thema Tierversuche ergab.
Erwartete man von Dr. med. Sebastian Korff, Vertreter von Ärzte gegen Tierversuche, dass er sich für Tierwohl und Tierrechte einsetze, wurde man schnell eines Besseren belehrt. Ihm ging es ausschließlich um den Nutzen für Menschen, den Tierversuche seiner Meinung nach nicht hätten, weshalb sie zu unterlassen seien. Konkrete Vorschläge zur Verringerung der Belastung von Tieren oder allgemeine ethische Bedenken blieben außen vor. Zwei Neurowissenschaftler, die Tierversuche unterstützen, mussten her, um den Umgang mit Tieren konkret anzusprechen. Der Student Julian, der selbst an Zebrafischen forscht, versuchte statt über fachliche Details, vielmehr über ethische Fragen mit den beiden Tierversuchsgegnern in der Runde zu sprechen – erfolglos. Prof. Andreas Nieder, Direktor der Neurobiologie in Tübingen, begrüßte Verbesserungen in der Tierhaltung und sagte auf Nachfrage des Moderators zur Ethik: „Wir sind aufgefordert, die Belastung so gut es geht zu minimieren, das ist unsere Verantwortung.“ (Nieder)
Für Dr. med. Korff hingegen schien die Frage nach der Ethik wenig relevant. „Klar will ich Impfstoffe, ich trage auch eine Lederjacke und ich bin auch kein Vegetarier.“ (Korff)
Worum ging es in der Diskussion also stattdessen?
„Es gibt inzwischen sehr viele Mediziner und viele Wissenschaftler, die die Methode ‚Tierversuch‘ kritisch sehen“, sagte Medizinstudentin Julia. Ihre und Herrn Korffs Argumente: Ergebnisse aus Tierversuchen seien nicht auf den Menschen übertragbar. Deshalb scheiterten die meisten Medikamente, die in Tierversuchen Erfolge zeigten, in klinischen Studien. Und diejenigen Medikamente, die zugelassen würden, seien gefährlich, da Nebenwirkungen im Tier nicht richtig eingeschätzt werden könnten.
Abgesehen davon, dass diese Aussagen sämtlichen medizinischen Erfolg des letzten Jahrhunderts leugnen, sind sie fälschlich vereinfacht.
Herr Korff führte unter anderem das Beispiel von TGN1412 an, einem Wirkstoff, der zur Therapie von Autoimmunerkrankungen eingesetzt werden könnte. 2006 wurde TGN1412 in einer klinischen Phase-1-Studie an gesunden Probanden getestet und brachte diese in Lebensgefahr. Obwohl der Wirkstoff in Tierversuchen und in der Zellkultur ungefährlich schien, hatte er äußerst starke Nebenwirkungen.
– Für Herrn Korff der Beweis, dass Tierversuche keine Patientensicherheit gewährleisten. Dabei unterschlägt er, dass Patientensicherheit überhaupt nicht mithilfe von Tierversuchen ermittelt wird. Sie wird in klinischen Studien ermittelt. In den seltenen Fällen, in denen das giftige Potential einer Substanz in Tierversuchen falsch eingeschätzt wird, gefährdet das die Teilnehmer dieser Studien, nicht die Patienten. So passiert bei TGN1412. Wenn ein Medikament auf den Markt kommt und stärkere Nebenwirkungen hat, als gedacht, dann liegt das daran, dass diese Nebenwirkungen in klinischen Studien mit Menschen nicht entdeckt wurden.
Tierversuche haben damit nichts zu tun.
Es war auch äußerst verwirrend aus dem Mund einer Medizinstudentin zu hören, dass Mediziner im Studium nichts aus Tierversuchen lernen würden. Natürlich zeigen Lehrbücher der Anatomie den menschlichen Körper, es wird über menschliche Nervenzellen gesprochen und über den menschlichen Stoffwechsel. Doch woher stammt ein Großteil dieses Wissens wenn nicht aus Tierversuchen? Es bedarf keiner medizinischen Kenntnisse, um zu erkennen, dass beispielsweise das Funktionsprinzip des Herzens weder in der Zellkultur, noch in menschlichen Leichen verstanden werden kann. Und wie würden ohne dieses Wissen heute Herzschrittmacher funktionieren?
Die Diskussion lief seitens der Tierversuchsgegner auf ein Anpreisen von Alternativmethoden hinaus. Jeder im Publikum könne sich ganz einfach auf „Youtube“ anschauen, wie der menschliche Körper auf einem Chip simuliert werden kann, so Korff. Ja, Alternativmethoden sind der Wunsch und das Ziel aller, auch und vor allem der Wissenschaftler. Ethisch schwierige, aufwendige und teure Tierversuche möchte niemand. Doch über allem steht der Erkenntnisgewinn. Wenn, und nur wenn, eine Frage nicht durch eine Alternativmethode beantwortet werden kann, müssen Tierversuche durchgeführt werden. Und so gut die Entwicklung von Alternativmethoden auch voranschreitet, so sehr ist sie in gewissen Bereichen doch noch immer limitiert. Das Beispiel des menschlichen Körpers auf einem Chip (human body on a chip) zeigt, das menschliche Organe zu komplex sind, um sie mit diesem Modell vollständig beschreiben zu können. Laut Experten sind die Chip-Modelle auf einige wenige Zelltypen limitiert, während menschliche Organe aus weit mehr Zellen bestehen, die alle unterschiedliche und wichtige Aufgaben erfüllen. Modelle wie der ‚Body on a chip‘, die Teilaspekte des menschlichen Körpers ignorieren, könnten zu falschen Schlussfolgerungen bezüglich Medikamentensicherheit führen. Ob Medikamente damit besser werden?
Was konnte das Publikum schlussendlich aus dieser Debatte lernen? Dass Herr Korff kein Vegetarier ist, der angehende Neurowissenschaftler Julian aber schon; dass ein Tierversuchsgegner Impfstoffe befürwortet, aber nicht deren Entwicklung; dass wir unzählige an Tieren getestete wirksame Medikamente auf dem Markt haben, obwohl Tierversuche doch gar nichts bringen?
Der Zuhörer konnte durchaus verwirrt aus dieser Diskussion herausgehen. Am besten daran war vermutlich, dass sie überhaupt stattgefunden hat. Nun gibt es in Tübingen wieder ein paar mehr Studenten, die sich konkret mit dem Thema auseinandersetzen. Und je mehr das tun, desto besser können wir in Zukunft daran arbeiten, unserer gemeinsamen Verantwortung Tieren und Menschen gegenüber gerecht zu werden.