Alternative Fakten

Der Begriff „Alternative Fakten“ ist von der Sprachkritischen Aktion Unwort des Jahres zum Unwort 2017 gekürt worden. Er sei der verschleiernde und irreführende Ausdruck für den Versuch, Falschbehauptungen als legitimes Mittel der öffentlichen Auseinandersetzung salonfähig zu machen“.

Die echte Wahrheit oder die alternative? (Pixabay, CC0)

Die Entscheidung der Jury zeugt von einer wachsenden Besorgnis über eine Entwicklung, die immer weitere Bereiche des öffentlichen Lebens einzuschließen scheint. Eine Falschbehauptung wird auch dann noch als Argument gelten gelassen, wenn sie eindeutig als unwahr entlarvt wurde. Dazu bedarf es heute keines raffinierten Täuschungsmanövers, keines bestochenen Beamten, keiner gefälschten Studie. Es wird einfach aus der Luft gegriffen und behauptet. Und dann auf der Behauptung beharrt, egal wie vollständig sie schon widerlegt wurde. „Du magst deine Wahrheit haben, ich glaube aber lieber an meine.“

Es ist die gleiche Sorge, die Anfang 2017 weltweit Unterstützer des wissenschaftlichen Denkens zum Science March auf die Straßen getrieben hat. Ein Event, das sich Anfang 2018 wiederholen wird. Denn unsere Besorgnis wird nicht kleiner.

Wir stehen als Gesellschaft immer wieder vor wichtigen Entscheidungen. Wie sollen wir mit dem Klimawandel umgehen? Unter welchen Umständen sollen Abtreibungen möglich sein? Wo sollen die Grenzen der pränatalen Diagnostik liegen? Wie sieht ethisch vertretbare Tiernutzung aus? Es handelt sich immer um Abwägungen. Wenn nicht, wären diese Entscheidungen nicht schwierig. Wenn zwei wichtige Güter im Konflikt stehen, müssen wir uns einigen, welches Gut das wichtigere ist. Nüchterne Fakten liefern uns hier keine Antwort. Aber sie sind die zwingende Grundlage. Wer die Faktenlage nicht kennt, argumentiert schnell am Thema vorbei. Deswegen sabotieren „alternative Fakten“ jeden demokratischen Entscheidungsprozess. Eine freie Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn die Wahrheit für jeden zugänglich ist. „Die Demokratie stirbt in der Dunkelheit“, wie die Washington Post es formuliert.

Nehmen wir die Frage, ob Impfungen gegen bestimmte Krankheiten verpflichtend sein sollten, statt nur offiziell empfohlen. Neben pragmatischen Argumenten steht hier im Kern die freie Entscheidung über den eigenen Körper gegen den optimalen Schutz der Bevölkerung. Eine Abwägung, über die es viele gute Argumente auszutauschen gibt. Aber diese Argumente gelten nur in der wirklichen Wirklichkeit, der mit den echten Fakten. Heutzutage werden lautstark die Risiken jeder Impfung um mehrere Größenordnungen übertrieben, gar neue erfunden, die Wirksamkeit heruntergespielt, teilweise völlig geleugnet. An den Haaren herbeigezogene Behauptungen, mehrfach widerlegt. Trotzdem überzeugen sie Menschen. Wer das schluckt, steht natürlich vor einer völlig anderen Abwägung, die mit der echten gar nichts mehr zu tun hat. „Soll es eine verpflichtende Behandlung geben, die mit hoher Wahrscheinlichkeit krank macht aber dabei kaum einen Nutzen hat?“ – natürlich nicht! Aber das ist halt auch überhaupt nicht die Frage, vor der wir stehen.

Nehmen wir die Frage, ob wir invasive Grundlagenforschung mit Tieren machen sollten. Auf der einen Seite steht die Verpflichtung, Lebewesen kein Leid zuzufügen. Auf der anderen das Wissen, dass jeder technische und medizinische Fortschritt immer auf Grundlagenwissen beruht. Je mehr Grundlagenwissen, desto größere Fortschritte sind möglich. Auch hier gibt es viele gute Argumente auf beiden Seiten. Und auch hier gibt es Gruppen, die lautstark eine alternative Wirklichkeit erzeugen, in der plötzlich ganz andere Sachen gegeneinander abgewogen werden. „Sollen Wissenschaftler völlig nutzlose Experimente an Tieren ausführen, nur um ihre Neugier zu stillen?“ – natürlich nicht! Aber lass uns da nicht weiter drüber reden, sondern uns der echten Frage zuwenden. Die in der echten Wirklichkeit. Mit den echten Fakten.

Das Thema Tierversuche ist stärker in die Welt der alternativen Wahrheiten abgedriftet, als ich das von irgendeinem anderen Thema erlebe, das mit Misstrauen in die Wissenschaft zusammenhängt. Klar, Klimawandel wird gerade heraus geleugnet, die Wirksamkeit von Impfungen ebenso. Aber dem gegenüber stehen große Aufklärungsbemühungen. Wenn man sich als Unbeteiligter eine Meinung bilden will, stellt man schnell fest, dass es einen wissenschaftlichen Konsens gibt, der den abstrusen Behauptungen widerspricht. Offizielle Stellen sowie viele einzelne Wissenschaftler verteidigen die Fakten.

Beim Thema Tierversuche werden „alternative Fakten“ weitgehend unwidersprochen im Raum stehen gelassen. Wir haben eine lange Kultur des Kopf in den Sand Steckens. Institute sprechen nicht gerne über Tierversuche, einzelne Wissenschaftler ebenso wenig. Das liegt meines Ermessens zum großen Teil daran, dass niemand wirklich für Tierversuche ist. Allen Beteiligten wäre es lieber, wenn wir sie nicht brauchten. Unser eigentliches Ziel ist es, die Welt besser zu verstehen. Wir wissen, dass darin der Schlüssel für neue Errungenschaften wie medizinische Behandlungen liegt. Davon sind wir begeistert und erzählen gerne darüber. Tierversuche sind ein Mittel zum Zweck. Wir wägen ab und kommen zum Schluss, dass es moralischer ist, einen bestimmten Tierversuch durchzuführen, als ihn nicht durchzuführen. Für etwas, das man selbst am liebsten unnötig machen würde, hält aber niemand gerne sein Kinn hin. Und so ist der Konsens, den es zum Nutzen von Tierversuchen unter Wissenschaftlern und Ärzten genauso gibt wie zu den anderen genannten Themen, für Außenstehende kaum sichtbar.

Wie Ihr wisst, ist das bei Pro-Test anders. Wir sprechen offen über Tierversuche. Wir stecken nicht den Kopf in den Sand, sondern zeigen unsere Namen und Gesichter. Wir finden, dass Wissenschaft offen und transparent sein muss. Wir finden, dass wir von uns aus auf die Öffentlichkeit zugehen sollten und nicht nur auf Anfragen oder Anschuldigungen reagieren.

Ins gleiche Horn stößt der Siggener Kreis. Das ist eine kleine aber einflussreiche Gruppe von Wissenschaftskommunikatoren aus dem Journalismus, den Hochschulen, usw. Auch sie äußern sich besorgt über die Zurückweisung wissenschaftlicher Evidenz in Teilen der Bevölkerung und den Einzug „alternativer Fakten“ in die Debatten. In den gerade veröffentlichten Siggener Impulsen 2017 fordern sie: „Wir brauchen Widerstandskräfte gegen falsche Aussagen“. Konkret bedeute das: Sich um Aufklärung bemühen, nicht nur auf Falschaussagen reagieren. Für transparente und integre Wissenschaft sorgen. Den Menschen nicht nur Infos vor den Latz knallen, sondern Möglichkeiten schaffen, sich selbst zu informieren. Alle wesentlichen Schritte des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses sichtbar machen, inklusive Fehler und Leerlauf. Denn: „Misstrauen entsteht nicht zuletzt dadurch, dass Entscheidungen scheinbar hinter verschlossenen Türen getroffen werden“. Der Siggener Kreis fordert, dass „Orte und Strukturen für den Dialog zwischen Bürgerinnen und Bürgern und der Wissenschaft“ geschaffen werden sollten.

Einer dieser Strukturen ist Pro-Test Deutschland e.V. Wann immer ihr Fragen oder Gesprächsbedarf zum Thema Tierversuche habt, könnt Ihr bei uns mit Wissenschaftlern, Tierpflegern, Studenten und anderen Menschen aus dem Wissenschaftsbetrieb sprechen. Das gilt für interessierte Außenstehende genauso wie für Menschen, die selbst mit Tierversuchen zu tun haben. Schreibt uns eine Email, diskutiert mit uns auf Facebook oder Twitter. Wir kommen auch zu Euch in die Schule oder zu einem Diskussionsabend. Denn freie Meinungsbildung braucht zuerst die Fakten.